antibeige ist keine farbe, sondern eine haltung: für mehr pop, mehr punk, mehr memphis und mehr was-ihr-wollt. „was wir brauchen, sind ein paar verrückte leute; seht euch an, wohin uns die normalen gebracht haben.“ (george bernard shaw)

das ist das ziel dieser interviewserie von func. – wir porträtieren freigeister und menschen, die aus der reihe tanzen, die ein bisschen anders sind, die wenig darauf geben, was wohl die nachbarn denken. und die wir als unsere kunden kennengelernt haben.

Heute: Rainer Schmelzeisen, Eltville.

 

text: mathias jahn, fotos: stefan trocha

for an english summary please click here. 

 

Ein Blatt Papier mit einem möglichst kleinen Gedicht.

Rhein, Rosen und Riesling: Eltville kann sehr idyllisch sein. Wer vom Weinprobierstand auf den Fluss blickt, könnte an Harald Juhnke’s Definition von Glück denken: „Keine Termine und leicht einen sitzen“ – aber wir haben ja einen Termin, im Sülzturm. Ein Stadtturm aus dem 14. Jahrhundert – mit Literatur-, Kunst- und Designbezug. Wie das kommt, erklärt uns Rainer Schmelzeisen, Turmherr, Künstler und im Hauptberuf Chirurg am Universitätsklinikum Freiburg.

 

Fangen wir mal ganz vorn an: Was verbindet Dich mit diesem Turm?

Ich bin hier in Eltville geboren – und ungefähr zehn Meter neben diesem Turm war das Krankenhaus, in dem ich das Licht der Welt erblickte. Ich bin nicht ganz sicher, wie stark der Geburtsort einen Menschen prägt, aber Felix Krull sagt im Roman: „Der Rheingau hat mich hervorgebracht…“. Thomas Mann wollte damit wohl unterstreichen, dass die Gegend eine gewisse Bedeutung hat: Die Art zu leben, die Umgebung, die sanften Hügel… Goethe war ja auch oft hier, hat sich mit den Brentano-Töchtern getroffen, hat auch in Eltville übernachtet… es ist eine sanfte Gegend, klimatisch mild, in der auch ein sehr guter Wein gedeiht. Dieses Ensemble beeinflusst sicher auch das Großwerden und das Leben insgesamt.

Aber zurück zum Turm: Ursprünglich ein Wehrturm, dann als Gefängnis und später als Stadtarchiv genutzt, seit 1987 leerstehend: das Dach war undicht, der Außenverputz löste sich, tiefe Risse im Mauerwerk, Kälte, Feuchtigkeit, Schimmel. Da war eine sehr aufwendige Sanierung absehbar und die Stadt hat sich dann entschieden, diesen Turm zu veräußern. Meine Frau hat das beim Frühstück in der Zeitung entdeckt und ich habe mich daraufhin beworben und darum gebeten, mir den Turm „anzuvertrauen“. Schon mit dem Gedanken, hier Kunst zu etablieren und auch Gottfried Benn, einem meiner Lieblings-Schriftsteller, hier vielleicht einen Raum zu widmen und so Verständnis und Neugier für Kunst zu wecken, auch bei Menschen, die sonst vielleicht nicht so viel mit Lyrik zu tun haben.

 

Das war für die Stadt wohl auch mit ausschlaggebend, dass man hier nicht einfach ein Boutiquehotel aufmacht. Wenn man am Anfang von „anvertrauen“ spricht, kann man am Ende auch sagen: „Jetzt ist er in guten Händen.“ Du hast ja sehr lange saniert und renoviert, sechs Jahre insgesamt.

Der Architekt Manfred Kempenich hat hier viel dazu beigetragen, das Ganze mit einer gewissen Ruhe zu machen, damit wir dem Gebäude auch gerecht werden. Am Anfang war mir der Turm fast ein bisschen unheimlich: Die dicken Mauern, die kleinen Türen, die steile Treppe, die wenigen Fenster – und es war ja ein Gefängnis, das in jedem Stockwerk eine Zelle hatte, da haben sicher auch eine Reihe von Menschen keine guten Gefühle hinterlassen. Aber mit der Zeit haben der Turm und ich ein sehr gutes Verhältnis zueinander entwickelt.

 

Das merkt man, es fühlt sich an wie eine gelungene Transformation, nicht nur optisch, sondern eben auch mit neuem Sinn erfüllt. Es ist jetzt eher ein Leuchtturm für die Kunst.

Schön gesagt. Der Turm wird auch für Führungen geöffnet, zu den Tagen des offenen Denkmals, für Kunst- und Literaturinteressierte, gelegentlich auch mit Weinprobe. Insofern ist der Turm jetzt auch wieder Teil der Stadt und kein vergessener Ort mehr.

 

Am Eingang schaut Dir schon Gottfried Benn über die Schulter.

Benn ist hier der heimliche Hausherr – er war ja auch der wichtigste expressionistische Dichter Deutschlands. Die Büste stammt von Thomas Duttenhöfer, einem Darmstädter Künstler, der sie zunächst in Gips gemacht hat. Aber da ja der Turm vielleicht doch noch so eine Restfeuchtigkeit hat, dachte ich, das ist hier als Bronze doch besser aufgehoben. Hinter Benn geht es durch die historische Gefängnistür direkt in den ersten Kunstraum. Der ist fast klaustrophobisch, zwei Meter dicke Mauern, ein winziges Fenster… dieser untere Teil des Turms ist über 500 Jahre alt. In diesem Bereich will ich den Besucher mit Lichtkunst in eine andere Welt führen, weg von der Straße in diesen abgeschirmten Raum, um auch eine Aufnahmebereitschaft zu schaffen.

 

Das wirkt jetzt wie eine Mönchszelle, sehr kontemplativ. Drei Kunstwerke, die mich umschließen wie ein Triptychon.

Es hat sich so ergeben, es wirkt trotz der unterschiedlichen Formate wie ein aufeinander abgestimmtes Ensemble. An der Stirnwand ein Objekt von Julian Opie, eine Küstenszene in Analogie zu einem japanischen Holzschnitt, mit bewegten Lichteffekten und einem plätschernden Wassergeräusch. Links Daniel Buetti: Hände, die anscheinend Wasser auffangen – das besteht aber nur aus Lichtpunkten und wirkt dadurch wie Sternenstaub. Rechts eine Collage von Hiromi Masuyama. Sieht aus wie ein Panoramabild, sind aber Hunderte von Einzelfotos aus einem Flugzeug heraus gemacht, jede Minute ein Bild. Das ergibt dann zusammengefügt die Gesamtstrecke von Tokyo nach London – und das alles manuell, vor der Digitalisierung, mit der man das heutzutage natürlich automatisieren könnte. Aber hier ist es noch fotografisches Handwerk.

Und ich habe mir erlaubt, noch ein eigenes Werk hinzuzufügen: Beim Verlassen des Raumes entdeckt man ein Großfoto, das eine Statue in Venedig zeigt, die etwas in der Hand hält. Das Bild reagiert dank Bewegungsmelder auf den Besucher und spricht ihn quasi an, mit dem Satz: „Show me your heart“. Und dann erscheint in der Handfläche ein schlagendes Herz, als Videoloop einer echten Kardio-Magnetresonanz­tomographie. Es ist übrigens das Herz des Künstlers – in diesem Fall also meines. Man hatte mir im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung geraten, das mal zu machen, was auch wirklich eine interessante Erfahrung ist, es war übrigens alles in Ordnung. Der Vorgang dieser Untersuchung und das Bild waren für mich so… wir Chirurgen würden sagen: einschneidend, dass ich das unbedingt verarbeiten wollte. Das ist ja bei Kunst oft so, dass man Erfahrungen verarbeitet, bei mir liegt dann die Medizin halt nahe. Manche finden das makaber – für mich symbolisiert es aber ganz wörtlich eine herzliche Begrüßung, ein medizinisch-lyrisches Willkommen.

 

Und wie geht es im Turm weiter?

Die Stockwerke sollen aufeinander aufbauen, es war gar nicht leicht, die Objektfolge festzulegen, es ist eine Art Choreographie. Und wenn wir jetzt die Wendeltreppe hinaufgehen, empfängt uns im ersten Stock ein Neonobjekt. Es heißt „If these walls could talk“, stammt von einem italienischen Künstler und mein erster Gedanke als ich das sah, war: Das muss in den Turm.

Zwei Schritte weiter, auch in einer Fensterhöhle, ein „minimalkinetisches Objekt“ von Siegfried Kreitner. Ein sehr präzise gefräster Metallwürfel mit Ausschnitten, in denen verschiedenfarbige Plexiglaskästen langsam rotieren, von innen neonbeleuchtet. Form, Licht, Farbe und Bewegung: Eine faszinierende Skulptur.

 

Und an der Wand hier noch ein aktuelles Objekt von Dir, ein aufwendig geschnitzter und vergoldeter Rahmen präsentiert in einem großen Passepartout einen winzigen Bildschirm – was ist das für eine Szene?

Das gehört quasi noch zur Begrüßung. Es heißt „Yokoso“, japanisch für „Willkommen“ und zeigt zwei Flughafenmitarbeiter in Tokyo, die sich vor dem Flugzeug verbeugen, das an seine Parkposition rollt. Bevor sie die Koffer ausladen, erweisen sie ihren Respekt. Ich mag den Kontrast durch die Präsentation, die eigentlich eine Miniatur oder eine wertvolle Radierung erwarten lässt – und dann kommt diese kleine Alltagsszene, die ich aber als sehr sympathisch und auch typisch für Japan empfinde.

 

Wir betreten jetzt die zweite „Zelle“ – und auch hier wirkt der Raum wie eine begehbare Installation.

Die winzigen Räume haben den Vorteil, sehr intim zu sein: Man kann nicht einfach hindurcheilen, wie in einem großen Museum. So kommt man auch schnell in Kontakt mit Gottfried Benn, dessen bekannteste Texte auf großen Bildtafeln reproduziert sind. Benn wurde 1886 in Mansfeld geboren, stammte aus einem protestantischen Elternhaus, hatte auf Wunsch des Vaters zwar kurz Theologie studiert, dann aber in Berlin ein Medizinstudium aufgenommen. Hier sehen wir die frühen Werke aus „Morgue und andere Gedichte“, 1912 veröffentlicht, in denen er seine Erfahrungen aus Hunderten von Obduktionen verarbeitet und angeblich in einer Nacht niedergeschrieben hat. Das sind Texte, die bei den meisten Lesern zunächst Entsetzen hervorrufen, denn sie beschreiben sehr drastisch Vorgänge bei einer Sektion. Oder hier, „Nachtcafé“, wo er Paare anhand ihrer Hautleiden oder ihrer physiognomischen Merkmale beschreibt. Das hat damals die Presse in den Harnisch getrieben und einen ordentlichen Skandal verursacht, Benn wurde als „Höllen-Breughel“ bezeichnet. Er hat in dieser Zeit aber auch sehr interessante Liebesgedichte geschrieben, etwa während seiner Beziehung mit Else Lasker-Schüler, die beiden haben auch öffentlich einen Dialog mit diesen Gedichten geführt.

 

Wie kommt denn der junge Arzt Benn zu diesem künstlerischen Ausdruck?

Das ist eine interessante Frage: Warum ein Mensch, der sich anschickt, Arzt zu werden, zusätzlich den Wunsch verspürt, sich künstlerisch zu äußern. Er sprach selbst öfters davon, dass er nie den hingebungsvollen Beruf des Arztes aufgeben möchte – aber wie man in seinem Werk sieht, waren Gedichte, oder das Schreiben an sich, unglaublich wesentlich. Er konnte davon nicht leben, war also auf den „Brotberuf“ angewiesen, aber ich glaube, dass er ihn auch sehr gern ausgeübt hat. Es muss ihm ein Anliegen gewesen sein, sich in der Form auszudrücken, man geht auch davon aus, dass er bewusst die Lyrik, wie sie in Deutschland bekannt war, verändern und bereichern wollte. Etwa durch die Einführung medizinischer Begriffe, die vor ihm nie verwendet wurden, obwohl es ja einige „Dichterärzte“ gab, Döblin etwa oder Schiller, der auch Arzt war. Er hat völlig ungewohnte und auch bewusst abstoßende Begriffe in die Lyrik eingeführt, er hat das Unsagbare poetisch umgesetzt.

 

Dadurch werden die Texte ja auch stark expressionistisch, diese Abwendung von der Schönheit als Ziel, hin zur Ästhetik des Hässlichen, das Spielen mit Wortbildern bis hin zu den wuchtigen Satzkonstruktionen. Etwa hier, eine Zeile aus dem „Nachtcafé“: „Zwei Augen brüllen auf…“, das ist ja Malerei mit Worten.

Das ist Expressionismus pur. Benn hat diese Collagetechnik in Texten angewandt, die auch in der Kunst damals einen hohen Stellenwert hatte, im Kubismus oder im Surrealismus etwa. Hier wird eine Szene menschlicher Nähe beschrieben, die aber an den eher unschönen Merkmalen der Akteure festgemacht wird. „Fett im Haar spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel…“ Das ist eine präzise, wissenschaftliche Beobachtung, man muss fast Arzt sein, um die „Rachenmandel“ überhaupt wahrzunehmen. Und in dieser kühlen Betrachtungsweise wirkt es auf viele Leser zynisch. In wenigen Worten so das Hässliche an Menschen herauszudestillieren, ist grob, es ist nicht wohlmeinend.

 

Man sieht vor dem inneren Auge schon ein Otto-Dix-Gemälde.

Ja, Otto Dix oder auch George Grosz – oder, um ein aktuelles Beispiel aus dem Film zu nehmen: Das ist „Babylon Berlin“ in Schriftform.

 

Was haben die anderen künstlerischen Arbeiten im Raum mit Benn zu tun?

Diese hinterleuchtete Fotografie von Ulrich Blum, übrigens ebenfalls Arzt, illustriert sehr anschaulich die Arbeit von Benn damals in der Pathologie in Berlin. Im Hintergrund liegt auf einer Korkplatte ein Gehirn und im Vordergrund, erst auf den zweiten Blick sichtbar, ein langes Anatomenmesser auf dem Metalltisch. Das ruft natürlich bei „Normalsterblichen“, ein schöner Ausdruck hier, ein Schaudern hervor. Die moderne Liege mitten im Raum wirkt durch die Anordnung unter dem Bild wie eine Mischung aus einem Sektionstisch und der Couch des Psychiaters.

Daneben ein ganz fragiles Werk eines jungen Medienkünstlers, Oskar Klinkhammer, es heißt „Behind the Moon“. Klinkhammer hat lange in Japan gearbeitet und dort am Meer einen Gummiball gefunden, der durch Salzwasser und Wettereinflüsse so erodiert ist, dass er einerseits fast aussieht wie ein Gehirn und andererseits eben wie die Mondoberfläche. Der rotiert unterhalb des Plexiglaskastens, dahinter sitzt eine winzige Kamera, die den Betrachter filmt und das Bild auf einen kleinen Monitor überträgt. Man sieht sich also selbst „hinter dem Mond“.

 

Weiter hinauf in den Turm, wir sind jetzt im zweiten Stock. Direkt am Eingang ein buddhistischer Hausschrein.

Das ist ein japanischer „Butsudan“, ein Schrein, mit dem der Vorfahren gedacht wird. Dieser hier kommt aus Nagoya, außen schwarzer Lack, innen vergoldet und illuminiert. In Japan werden dort oft kleine Erinnerungsstücke aufbewahrt, Fotos oder Kalligraphie und es werden Opfergaben dargebracht, zum Beispiel Reis oder Früchte. Das ist für mich eine schöne Form des Gedenkens, weil es nahe bei den Menschen stattfindet, im Haus. Und ein solcher Schrein ist natürlich auch eine Erinnerung an die Vergänglichkeit. Auch Benn hat sich damit zeitlebens auseinandergesetzt, darum hängt hier direkt gegenüber ein Spiegelkasten, der eines seiner schönsten Gedichte wiedergibt: „aus Fernen, aus Reichen“, in dem er sich damit beschäftigt, was wohl nach dem Tod kommt.

Und hier, im Hauptraum, haben wir jetzt die Objekte, die am meisten an das Werk von Benn erinnern: Monographien, Erstausgaben, wie die „Morgue“ von 1912, das sind ganz dünne Bände, fast Flugschriften, mit einer pergamentartigen Papierstruktur, aber auch „Söhne“ aus dem folgenden Jahr und weitere wichtige Werke, hier „Gehirne“ von 1917. Man muss sich vorstellen, das spielt sich alles kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg ab, der ja auch an Bedeutung für die europäische Kultur gar nicht überschätzt werden kann. Das ist drastische, expressionistische Literatur, die sich ganz massiv mit diesen Zeiten auseinandersetzt. Wichtig sind auch die „Ausgewählten Gedichte“ von 1936. Das gibt es in einer früheren und einer späteren Ausgabe, in der späteren haben die Nationalsozialisten fünf Gedichte entfernt bzw. ersetzt, die ihnen nicht recht waren. Benn hatte 1933 versucht, mit dem Nationalsozialismus anzubändeln, er hat auch als kommissarischer Leiter unliebsame Mitglieder aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Allerdings wurde er selbst schon ab 1933 angefeindet und hatte ab 1938 Schreibverbot. Er hat einerseits den Expressionismus verteidigt, sich andererseits distanziert, zum Beispiel von den Gedichten, die er für Else Lasker-Schüler geschrieben hat, weil man ihm vorgeworfen hatte, dass das „Ferkeleien“ seien. Er hatte sicherlich nichts Rebellisches, keine Antihaltung, ganz im Gegenteil, vielmehr hat „das Reich“ auf ihn verzichtet.

 

Soviel zu Gottfried Benn, nun folgt ein harter Bruch: Wir steigen hinauf in den dritten Stock. Über dem Ende der Treppe hängt von der Decke eine Art elektronischer Fliegenfänger, der aber eine Shakespeare-Zeile präsentiert…

„As flies to wanton boys are we to th‘ gods“ – also: „was Fliegen für ungezogene Jungs, sind wir für die Götter“. Was uns natürlich wieder unserer Endlichkeit gemahnt.Das hat mich begeistert, darum habe ich ein Leuchtobjekt daraus gemacht.

 

Es ist sehr auffällig, dass viele Deiner eigenen Objekte, aber auch Werke der anderen Künstler, mit Texten arbeiten…

Ich wurde schon recht früh, durch Umwelteinflüsse, durchaus auch in der Schule, neugierig auf Worte, Texte und ganz besonders auf Lyrik. Dabei hatte ich schnell das Gefühl, dass Lyrik die kondensierteste Form ist, etwas auszudrücken. Das hat mich damals auch in der Rockmusik am meisten interessiert: Künstler, die in dieser sehr reduzierten Form von Liedern ihre Erfahrungen mitgeteilt haben. Ich bin bis heute sehr textaffin, das ist in einem wissenschaftlichen Beruf, in dem man auch publiziert, ja ohnehin von Bedeutung. Dylan Thomas hat mal gesagt: Love the Words!

 

Hat das Deinen Werdegang beeinflusst? 

Mangels sängerischer Qualitäten für einen Rockstar ungeeignet wollte ich einen soliden Beruf, der anspruchsvoll ist und mit Menschen zu tun hat. Im Studium hab‘ ich die Mund-, Kiefer- Gesichtschirurgie kennengelernt und war fasziniert von der Arbeit dieser Chirurgen im Gesicht und am Kopf. Präzision, manuelles Können und Wissenschaft in einem für den Patienten sehr exponierten Bereich. Diese Chirurgie ist auch Kunst.

Jetzt hier im Turm habe ich wieder mehr Möglichkeiten, meine künstlerischen Projekte zu verfolgen, eigene Dinge zu entwickeln, wie meine Leuchtbilder oder Arbeiten mit Lentikulareffekten, aber auch Werke anderer Künstler zu sammeln und auszustellen. Und dann eben auch mit Sprachkunst weiterzuarbeiten – zum Beispiel mit den Werken von Gottfried Benn.

 

Ist Dir diese Verbindung von Wort und Kunst wichtig? Das Wort, das man ja eigentlich nicht festhalten kann: Wenn man es gesagt hat, schwebt es noch ein wenig im Raum und dann ist es weg.

Richtig, das Wort muss dokumentiert werden, es braucht einen Schreiber, der es fixiert oder früher zumindest einen Erzähler, der es erinnert und weitergibt. Ich finde nichts schöner als ein Blatt Papier mit einem möglichst kleinen Gedicht. Darum sind mir die japanischen Gedichte sehr lieb, die Haikus – hoch missbraucht, weil jeder sich an Haikus versucht, das arme Gedicht, es tut mir fast leid – aber in der künstlerischen Ausformung eben auch hochpräzise, mit dem Schwerpunkt auf Kontemplation und Erkenntnis. Also, ja: Texte in der Kunst, das ist mir wahnsinnig wichtig.

 

Apropos Erkenntnis, kommen wir noch einmal zurück zum Turm. Es gibt ja hier oben ein Gäste-Appartement mit Schlafraum, kleinem Bad und Mikroküche. Und ganz oben einen einzelnen Raum, den Du selbst bewohnst, wenn Du in Eltville bist.

Richtig, aber diese Wohnfläche oben im Turm gibt es natürlich schon länger: Es war wohl so, dass hier der damalige Gefängniswärter wohnte. Der hölzerne Dachstuhl stammt vom Winter 1840, das konnte dendrochronologisch bestimmt werden. Das hat also eine historische Kontinuität. Ich denke mir manchmal, der Turm braucht auch jemanden, der auf ihn aufpasst. Es ist ein schöner Gedanke, dass ein Gebäude belebt ist.

 

Das ist ja auch eine klassische Aufgabe: Im Englischen gibt es den „custodian“, im Deutschen sagte man früher Kustos, einerseits für einen Museumskurator, andererseits auch für den Hüter eines Gebäudes, eines Schlosses oder eines Kirchenschatzes.

„Hüter“ gefällt mir gut als Begriff für die Rolle, die ich hier wahrnehme. Aber es geht auch um das Leben mit der Kunst: In Japan gibt es eine Kunstinsel vor Okayama, die heißt Naoshima und dort kann man in einem Museum wohnen. Das ist wunderschön, mit Kunst in allen Räumen und auf den Gängen. Und das hat sich hier auch ein bisschen verwirklicht, dass man hier in Kunstumgebung arbeiten, ausruhen, Essen, Trinken, Schlafen kann.

 

Aber eben nicht nur umgeben von Kunst, sondern auch von Wolken und Landschaft. Der Hauptraum hat Fenster in alle Richtungen, wie es sich für einen Wachturm gehört.

Dadurch vermittelt der Raum ein starkes Freiheitsgefühl, losgelöst vom Boden, über den Dächern der Stadt, ein 360-Grad-Blick, der diese sanfte Landschaft erschließt. Man schaut auf den Rhein oder entlang der Stadtmauer auf die kurfürstliche Burg, in die Weinberge oder in die Taunusausläufer. Man hat einen unglaublichen Lichteinfall, es wird quasi Licht angezapft, die Lichtstrahlen werden kondensiert. Und es ist wetterunabhängig schön, bei Regen ist man eben „im Regen“ mittendrin, es ist fast ein Flugzustand, gerade, wenn man hier sitzt und durch die hohen Fenster eigentlich nur noch Himmel sieht.

Umgekehrt ist aber auch die Wirkung nach außen wichtig: Wir haben LED-Linien in allen Fenstern eingebaut, das war eine Idee der Lichtdesignerin Andrea Nusser. Diese LEDs sorgen dafür, dass der Turm nachts von außen gesehen sehr homogen illuminiert ist, das gleiche Licht in allen Fenstern. Das war mir ein großes Anliegen, dass da nicht immer nur ein kleiner Teil erleuchtet ist, womöglich auch noch in verschiedenen Farben – sondern der ganze Turm in seiner Schönheit erstrahlt.

 

Du sagtest, Du schaust auf den Rhein – was siehst Du da?

Erst einmal ist es ein „Strom“, der Rhein ist ja ein Fixpunkt der Romantik in Deutschland – Hölderlin, vom Neckar kommend, hat dem Rhein ein sehr schönes Gedicht gewidmet, das hat ihn wirklich überwältigt, diese Größe, diese Kraft. Dann ist es ein Fluss, der verbindet und trennt, zum Beispiel Rheinland-Pfalz und Hessen, oder weiter stromaufwärts Deutschland und Frankreich. Zuckmayer, der ja in Rheinhessen geboren und Ehrenbürger von Mainz ist, bezeichnete den Rhein und diese Gegend hier als eine „Kulturkelter“, völkerverbindend und Kulturen zusammenführend. Es ist vielleicht nicht ganz zufällig, dass Gutenberg in Mainz den Buchdruck und die Druckerpresse erfand – und dass heute das ZDF da sitzt.

Man könnte vermuten, dass es hier eine bestimmte Atmosphäre gibt, eine stimmige Konstellation aus Landschaft, Fluss, Weinbau und Kultur, die sich unterscheidet von beispielsweise Landschaften am Meer, die rauer sind, aber auch einen weiteren Horizont haben. Mich würde interessieren, ob sich das jedem erschließt, der hierherkommt.

Gottfried Benn selbst hat zwar keinen unmittelbaren Bezug zu Eltville, er war aber sehr verbunden mit dem Limes-Verlag in Wiesbaden und auch direkt mit seinem dort lebenden Verleger MaxNiedermayer. Er hat seinen 70. Geburtstag dort im „Nassauer Hof“ gefeiert. Und man kann durchaus auch eine poetische Verbindung herstellen: In Benns Gedichten spielen Rosen eine zentrale Rolle, ihm hätte die Rosenstadt Eltville sicher sehr gut gefallen.

 

Machen wir noch einmal eine kleine Innenschau, bevor wir ganz in Rosen und Reben versinken. Erzähl‘ doch bitte noch etwas über diesen Raum.

Ich wollte den Turm „in die Moderne holen“, mit der Kunst und auch mit der Einrichtung. Dabei hat mir Ulla Jahn sehr geholfen, den eklektischen Mix von historischen und modernen Möbeln und Objekten zu schaffen. Wir sitzen hier zum Beispiel an einem alten Goldschmiedetisch, der ist ein Einzelstück. Den mussten wir übrigens zerlegen, damit er die enge Wendeltreppe hinaufpasste, und dann hier oben wieder zusammenbauen – das ist gar nicht so einfach bei einem antiken Stück, da braucht man gute Handwerker. Der Tisch hat Aussparungen, wo man sich hineinsetzen kann, sodass die Arme links und rechts auf der Platte liegen und man für die feinen Arbeiten nur die Hände bewegen muss. Dadurch eignet er sich auch ganz hervorragend zum Weinverzehr, man wird links und rechts gestützt und muss nur noch das Glas heben. Man sitzt auch recht gut, dank der OP-Hocker, die bei uns in der Klinik nicht mehr verwendet werden durften und die ich deshalb käuflich erwerben konnte. Das Tolle daran: Sie sind kompakt, rollbar, höhenverstellbar – und man sitzt auf einem historischen Motorrad-Sattel von Denfeld, die vor allem Nachkriegsmotorräder ausgestattet haben, DKW, NSU, Kreidler, Zündapp, also ausgesprochen bequem.

Auch etwas Besonderes ist dieser hölzerne „Rockhausen“-Stuhl. In den 20er und 30er Jahren, also gerade zu Benn’s expressionistischer Zeit, entwarf die Möbelmanufaktur Rockhausen im sächsischen Waldheim zahlreiche patentierte Typenstühle, die wurden mit dem Slogan „Die Sitzmöbel der Zukunft“ beworben. Das Besondere waren hier die Anfänge der Ergonomie, etwa diese geschwungene Sperrholz-Sitzfläche mit ihrer organischen Anmutung. Das hat den Tischler ziemlich berühmt gemacht: Er wurde Lieferant des sächsischen Königshauses und des Sultans von Konstantinopel. Also ordentlich sitzen, bitte. Zum Rumlümmeln haben wir da drüben das flaschengrün bezogene Samtsofa.

Na dann probiere ich das mal aus…
Vielen Dank!

english interview summary

text: mathias jahn, photos: stefan trocha

antibeige is not a color, but an attitude: for more pop, more punk, more memphis and more what you want. „what we need are a few crazy people, look at what we have reached with the normal ones.“ (george bernard shaw)

that’s the aim of this interview series by func., we portray positively crazy people. people who who step out of line, who are a bit different, who don’t give much thought to what the neighbors think. and whom we’ve got to know as our customers.

Rhine, roses and Riesling: Eltville can be very idyllic. A medieval city tower surprises with references to literature, art and design. Rainer Schmelzeisen, artist and surgeon at the Freiburg University Medical Center, restored the historic building over six years and integrated a small museum for expressionist poet Gottfried Benn, his collection of modern video art, light installations and his own works, a guest apartment and a one-room flat for himself. All integrated over four floors, plus wooden truss, of the former defense tower and prison.

„I was born here in Eltville – very close to this building, actually. It was empty since 1987 and already quite dilapidated: the roof was leaking, the exterior plaster came loose, deep cracks in the masonry, cold, moisture, mould. A very costly renovation was foreseeable and the city then decided to sell it. My wife discovered this in the newspaper during breakfast and I applied and asked to „entrust“ the tower to me. Already with the thought in mind of establishing art here, perhaps dedicating a room to Gottfried Benn, one of my favourite writers, and thus arousing understanding and curiosity for art, even among people who otherwise may have little contact with poetry.

Thanks to the exhibition space in the tower, I enjoy the opportunities to pursue my own artistic projects, such as my illuminated pictures or works with lenticular effects, but also to collect and exhibit works by other artists. And to continue working with language art, of course – like with the poetry of Gottfried Benn.

On top of the tower you are surrounded by clouds and landscape. The main room has windows in all directions, it conveys a strong feeling of freedom, detached from the ground, above the roofs of the city, a 360-degree view that opens up this gentle landscape. It’s an unbelievable incidence of light, light is tapped, the light rays are condensed. And it is beautiful regardless of the weather, when it rains you are right in the middle of it, it is almost a state of flight, especially when you sit here and can only see the sky through the high windows.

I wanted to upgrade the tower „into the modern age“, also with the interior. Ulla Jahn helped me a lot to create the eclectic mix of historical and modern furniture and objects. For example, this is an old goldsmith’s table, which is a unique piece. The table has recesses where you can sit „integrated“, so that the arms are supported on the left and right of the tabletop and you only have to move your hands for the fine work on details of jewellery. This also makes it ideal for wine tastings, you are supported on both sides and only have to lift the glass.“